Bilder sehen, hören, fühlen. Über erlernte Synästhesien

 

Ein Erfahrungsbericht

 

Entrée en Matière

 

Sie sind gestorben.  Nun fahren Sie gen Himmel. Oben angekommen, steht ein Wegweiser, mit zwei entgegen weisenden Hinweispfeilen.  Der eine Pfeil geht nach links, darauf steht „Himmel“, auf dem anderen, der nach rechts geht, steht „Vorträge über den Himmel“.

R war die meiste Zeit den Weg nach rechts, der Vorträge gegangen – hatte tonnenweise hoch gelehrte Abhandlungen über den Himmel gehört – intensiv gelernt - auch selbst geforscht und einiges geben können – es war sehr spannend - sie war gefesselt von den vielen Erkenntnissen, die man über den Himmel zusammentragen konnte. 

 

Eines Tages aber, auf der Höhe der Wissenschaftslaufbahn, beschlich mich mehr und mehr das Gefühl, jetzt nicht mehr viel für mich dazu zu lernen.  Der Basso-Kontinuo, der tragende Untergrund meines Lebens bröckelte, er wurde momentan wenig gefüttert, konnte nur noch von Vergangenem zehren.  R beschloss die Höhen der psychologischen Wissenschaft zu verlassen und Kunst zu studieren.  Sich auf einen neuen, für sie völlig unbekannten Weg zu begeben, den anderen Pfeil in Richtung „Himmel“ zu folgen. 

 

Kunst und erlernte Synästhesie

 

Im Kunststudium angekommen, merkte R, dass sie nun die Seiten gewechselt hatte, dass sie auf einen völlig unbekannten Planeten gelandet war.  Wo sie vorher Menschen studiert, begleitet und wenn möglich geheilt hatte, so war sie nun auf der anderen Seite angelangt – nun war sie selbst Subjekt.  Der Übergang in dieser neuen Welt war nicht einfach gewesen – ich war nicht drauf vorbereitet so unbarmherzig mir selbst zu begegnen.  Daniel Richter sagte in einem Interview, als er anfing Kunst zu studieren, sei er sofort Alkoholiker geworden – er hätte es sonst nervlich nicht durchgestanden (1).  R verstand das gut, wenngleich für sie Alkohol keine Option war. Die Kunst aber blieb für mich attraktiv, weil sie etwas Mysteriöses ist, dass sogar in mir selbst entsteht – ohne, dass ich wirklich verstehe, wie es dazu kommt. Eine Magie, zugleich überraschend vertraut und gleichzeitig total fremd.  Was konnte sie aus ihrer Psychologie-Welt hinübernehmen?  Sie hatte sich bereits früher für die „Audition colorée“ (Farbenhören) interessiert und überlegte, ob Synästhesien den Radius für die Bildfindung erweitern könnten.  Sie hatte die Synästhesie allerdings bis jetzt aufseiten berühmter Komponisten wie Skrjabin, Olivier Messian, György Ligeti und andere kennengelernt.   R’s Kindheit war von Musik durchsetzt gewesen - sie hatte bis zum Abitur Klavierunterricht bekommen – die Eltern waren beide sehr musikalisch.  Musik und Malerei zu verbinden – wäre das möglich, ohne in die reine Assoziation zu verfallen?  Viele Leute malten während sie Musik hörten – das war OK, nur das war es nicht, was sie interessierte. 

 

In dem Buch von Cytowic, selbst Künstler und Forscher, über die Synästhesie (2) erfuhr R, dass das Großhirn, quasi als Kontrollorgan, die Entstehung von Synästhesien, die wohl im Limbischen System angesiedelt sind unterbindet.  Einige Forscher meinten, Synästhesie sei eine alte und inzwischen überflüssige Fähigkeit, die durch die Evolution herauskristallisiert worden sei. Andere gingen von einer gewissen Schädigung aus.  Wiederum andere meinten, alle oder jedenfalls die meisten Menschen seien bei der Geburt Synästhetiker – was sich im Verlauf der Entwicklung verlieren würde.  Auf letztere Annahme basierend folgerte sie, wenn ich durch Hypnose das Großhirn auf stumm schalten kann, bekommen dann alle Synästhesien?  In einem Gespräch mit einem Kommilitonen erzählte sie von der „écriture automatique“ von André Breton, ein Werkzeug, durch das man auf unbewusst gelenkte neuartige Zusammenhänge kommen kann.  In diesem automatischen Schreiben vermutete sie einen natürlichen Trancezustand. 

Sie besprach dieses Thema mit ihrem Kunstprofessor, der sofort Feuer und Flamme war.  Sie organisierte Workshops mit Kunststudierenden und Künstlern in München an der Ludwig-Maximilians-Universität und an der Akademie der Bildende Künste und entwickelte eine Trance mit entsprechenden Suggestionen. Und ja, 100 % der Teilnehmer sahen zu den dargebotenen Musiken Farben, Formen, auch Gestalten, Szenen und konnten diese in Malerei umsetzen – manche stärker, andere schwächer.  Oft wurden zusätzliche Sinne, wie kinästhetische Empfindungen, Bewegungslust, wie Tanzen, auch Geruchsempfindungen mit angetriggert.  Alle Teilnehmenden waren ursprünglich keine Synästhetiker.

 

Hier einige Beispiele aus Protokollen, unmittelbar nach den Sitzungen:

 

„Von der Musik?  Ich platze, innen und außen hebt sich auf.  Ich bin nicht mehr eingegrenzt.  Am Schluss der Trance: Wasser, klar und ruhig, Delphine tauchen auf und unter“.

 

Nach einer Trommelmusik: „Viele innere Bilder gesehen, meist schwarze Symbole, Pfeile, Monster, Sterne, Trommeln, Engel, Tannenbaum vor stark farbigen (leuchtendes Blau, Pink) Hintergrund, außerdem Bewegungen, trommelnde Hände, einer tanzenden Frau (mein Hintern tut mir weh); hatte auch starke Empfindungen, Geräusche... ich konnte meine inneren Bilder sehr genau wiedergeben, habe wieder mehrere Symbole zu einem Bild verbunden“,

 

„Ich habe die Musik ganz deutlich gehört, hatte den Eindruck von leichter Trance, aber es kamen dann ganz stark Licht und Farben, z. T. Formen, Zacken, florale Bilder.  Schauer liefen mir über den Rücken und über die rechte Körperhälfte... Von der Empfindung her konnte ich innere Bilder sehr gut in meinen Bildern verarbeiten, die Formen und Farben sind zum Teil ganz frei.“ 

 

Bereits in ihrer Psychologie-Zeit hatte R sich neben der Förderung des Selbstvertrauens intensiv mit der emotionalen Kompetenz auseinandergesetzt.  Auch hier, in der Kunst, war es ihr Bestreben der Emotionalität einen ihr gebührenden Platz zu geben.  Als ich am Max-Planck-Institut für Psychiatrie und Neurobiologie in München forschte, war ich positivistisch eingestellt gewesen, eine klare, naturwissenschaftlich gesteuerte Welt hatte mir gefallen.  Auf der Suche nach Selbsterkenntnis aber spielen Intuition, Emotionalität, ja das Numinose eine nicht unbedeutende Rolle.  In der Kunst konnten mir diese Aspekte helfen. R hatte den Kurs neben den Synästhesien auf andere Bereiche der emotionalen Verarbeitung von Erfahrungen ausgeweitet und auch Altersregression und Körpertransformationen eingebaut.  Dazu war ihr wichtig, das Selbstbewusstsein und die eigenen Bewertungskriterien des eigenen Tuns zu stärken.

 

Die Kurse und ihre Wirkung

 

R berichtet über die Kurse: Alle Menschen können mehr oder weniger tiefe Trance erleben, die sie durch spezifische Übung erweitern können.  Es gibt verschiedene Methoden Trance ein zu leiten.  Die von mir bevorzugte Methode bezieht sich auf Milton Erickson (3,4).  Sie ist völlig permissiv – in Wirklichkeit bringt die Person sich selbst in Trance.  Allen Methoden ist gemeinsam, das persönliche Bezugssystem in der Wahrnehmung der jeweiligen Person zu kennen und dem zu folgen. Hierfür hatte ich besondere Vorgespräche mit den Teilnehmenden durchgeführt, damit jede Person in ihrer persönlichen Weise angesprochen wurde und eine gemeinsame Erlebnissituation geschaffen werden konnte.   Diese erste Phase heißt „Pacing“.

 

 

Einmal eine solche Grundlage geschaffen, können andere Wahrnehmungskanäle aktiviert werden und man geht über zum „Leading“: die Person kommt in einen anderen Bewusstseinszustand.  Das Tagesbewusstsein ist nun mehr oder weniger stumm geschaltet, man ist völlig gebündelt und nach innen fokussiert.  Man ist nicht weggetreten, sondern eher „überbewusst“.

 

 

Wenn der Trancezustand hergestellt ist, kann die Nutzbarmachung desselben beginnen.  Nach Erickson bedeutet dies, die für die Person „eigenen mentalen Prozesse in einer Art zu nutzen, die außerhalb des üblichen Bereiches ihrer Absichten und ihrer willkürlichen Kontrolle liegen“.  Das heißt nichts anderes, als innere Suchprozesse auszulösen, die gezielt eigene Empfindungen, Bilder und sonstige unbewusste Inhalte hervorrufen.  Dann erfolgen spezifische Suggestionen zum Erleben der Verschmelzung von Bildern und Musik.  Hier wird eine gezielte Wahrnehmungserweiterung geschult, indem Überlappungen von kinästhetischen, optischen, akustischen, oft auch olfaktorischen und geschmacklichen Empfindungen erlebt und in Formen und Farben verankert werden.

 

Um nun die erfahrenen, völlig neuen hypnagogischen Bilder in künstlerischen Ausdrucksweisen, Zeichnen, Malerei, Bildhauerei etc. umzusetzen, wird eine Kommunikation zwischen dem Unterbewusstsein und dem Bewussten angestoßen, indem mental ein Beobachter-Ich installiert wird.  Dies ist möglich, erfordert jedoch etwas Übung.  Nahezu alle Teilnehmenden konnten diese Kommunikation herstellen.  Das ist wichtig, denn es geht hier nicht etwa darum „in Trance zu malen“ oder um Enthemmung, der künstlerischer Akt soll ein bewusster, gezielter Prozess bleiben. 

 

Diese Kommunikation auf zu bauen ist auch deshalb wichtig, weil oft Gewohnheiten, richtig-falsch-Normen, rezepthaft gelernte Vorgehensweisen zur Herstellung eines Werkes, erinnerte Kommentare von Lehrern, eine früh erworbene Fehlschlagangst sich als störende Blockaden erweisen können und sogar als regelrechte Kreativitäts-Killer das neue Erleben verhindern können.  Hier seien nur einige Aussagen wiedergegeben: „In einem Kunstwerk hat die Individualität des Künstlers nichts zu suchen“, oder „Du musst dich immer an dasselbe Vorgehen halten, du sollst wieder erkennbar sein“ oder „Nur die Abstraktion ist die wahre Kunst, realistisches zu malen ist rein narrativ, ist langweilig und soll vermieden werden“ (inzwischen hat sich herausgestellt, dass das Gehirn geradzu nach Erzählungen lechzt) oder gar „Es ist heute nicht mehr möglich grüne Bilder zu malen“.  Jeder Künstler oder Kunststudierende hat solche Hemmblöcke im Hinterkopf.  Diese führen zu einer Unsicherheit dem eigenen Erleben gegenüber.  Eine installierte Kommunikation mit dem Unterbewussten kann diese erworbene Unsicherheit in eine tief empfundene Sicherheit den eigenen Bildern und Ausdrucksformen gegenüber verwandeln, was der Kunst außerordentlich dienlich ist.

 

 

Ein Aspekt soll noch erwähnt werden.  Bei der Trance geht es ja um Bewusstseinserweiterung, die durch körpereigene Botenstoffe gesteuert wird.  Diese docken präzise an den Synapsen an, die für Kreativität zuständig sind.  Andererseits besetzen auch Drogen genau dieselben Synapsen – übrigens auch Alkohol.  Der wichtige Unterschied hier zu den körpereigenen Substanzen ist dieser, dass die Kunst, die unter Drogen entsteht, state-dependent ist.  Das bedeutet, dass die Kreativität nur durch fremde Einwirkung erzielt wird und die körpereigene nicht zum Zuge kommen kann, weil die Synapsen bereits „zugestopft“ sind. 

So hat die persönliche Kreativität keine Chance – der Organismus wird durch Fremdeinwirkung besetzt.  Eine weitere verheerende Wirkung der Drogen ist, dass der Körper sich an den Drogen gewöhnt.  Um diesen Zustand weiter zu bekommen, muss man immer mehr davon nehmen und gerät in einer Spirale von Bedarfssteigerung und gleichzeitige Verödung der eigenen kreativen Impulse und Imaginationsfähigkeit.  Damit entfernt man sich immer weiter vom eigenen Organismus, vom eigenen Selbst, von der eigenen Authentizität.   Am Ende bleiben oft minderwertige Werke, die nichts mehr mit der ursprünglichen, oft reichen Persönlichkeit zu tun haben.  

 

Nach alter Gewohnheit hatte R auch für diese Kurse Fragebogen ausgegeben – wollte sie explorativ begleiten. Sie hatte sogar eine Nachkontrolle vier Monate nach Ende des fünftägigen Kurses durchgeführt.  Die Teilnehmenden wurden gebeten, ihre jetzige Malerei mit der vor dem Kurs zu vergleichen. 

 

Einige Rückmeldungen von Teilnehmenden:

 

„Sehr bereichernd; anfangs aber auch frustrierend; die Beziehung zu meinem Körper hat sich enorm gebessert; Vertrauen zu mir ist gewachsen; in der Malerei gewann ich an Ideen und Freiheit (was im Moment noch befremdend ist).  Es ist aber schon sehr interessant, was passiert ist.  Es ist experimenteller als vorher.“

 

„Durchbruch zur Abstraktion; ausdrucksstärker; konzentrierter; in meinem Selbst liegen dunkle Schätze verborgen“

 

 „Öffnung zu Bereichen meines Inneren, die blockiert waren (durch zu viel Rationalismus, Funktionalismus).  Dadurch Freisetzen in künstlerischen Ausdruck, sowohl inhaltlich, thematisch als auch in der Ausführung... Nach der Trance sehr starkes Farbensehen, das Gefühl endlich einmal meine Umgebung klar zu sehen, ungetrübt durch vorhergegangenes und noch kommendes... weniger Voreingenommenheit gegen andere Meinungen... weniger beeinflussbar durch äußere Reize“.

 

 „Es hilft mir, stärker an die Kraftquellen meiner Kindheit heranzukommen.  Die entscheidende Stelle ist jene, die zwischen den einzelnen Bereichen, wo Kunst schaffen, Erinnerung und Gegenwartserfahrung aufeinandertreffen und einander beeinflussen... Es scheint mir als gelänge es mir dadurch mein grafisches und malerisches Schaffen zusammenzubringen ... meinem Wunsch aus einem Guss zu sein, näher zu kommen und an eine mit dem Erwachsenwerden verlorengegangene Einheit und Kraft wieder zu erlangen.“

 

Und in der Nachkontrolle nach vier Monaten: „Meine Malerei ist näher an mir dran... der zentrale Punkt ist die eigenen Bildwelt und dass ich mich darauf verlassen kann, das ich vor allem auch bei großen Formaten mit der Malerei immer wieder herein komme ... ich hab mittlerweile ein Problem bei Sachen, die zu ausformuliert sind,  ich mag es aber auch nicht schwammig, dass es verblasen wird.  Mehr die Vorstellung bei der Malerei von einem gesungenen Text, der mehr sagt, als wenn er in seiner Schriftform dargeboten wäre.  Es ist dann meine Interpretation, als wenn ich es singen würde, was dann auch durch die Farben kommt...“. 

 

 „Ich habe im Endeffekt weniger Skrupel, ich denke nicht, kann ich das auch bringen, es ist mein Reservoir, ein Teil meiner Persönlichkeit darzustellen.  Da hatte ich schon immer Hemmungen, zu viel über mich zu verraten... ich werde kompletter – das Gefühl komplett zu werden... es sind immer Momente einer sehr großen Intensität... Künstlerisch wird es kraftvoller, das Ganze.  Es ist auch Legitimation für mich, hab jetzt weniger Legitimationsnot.  Ich fragte mich immer: wieso malst du noch, ist ja alles schon gemalt worden: die Verschönerung der Welt gibt‘s schon – eine Bereicherung für anderen, ist auch fragwürdig, jetzt brauch ich kein Ziel mehr von außen, sondern ich habe es jetzt von innen.  Ich spür es jetzt und muss mich nicht mehr mit dem Kopf fragen.  Ich bin zurzeit in einer sehr schwierigen Situation, es hat mir auch geholfen, dass ich jetzt ein geschlosseneres Bild von mir selber habe, dass ich nicht groß verzweifle.  Das Malen ist mein Weg – ich hätte es leichter haben können.“  

                                                                                             

Mit solchen Zitaten von Teilnehmenden, die hier pars pro toto stehen und mich sehr berühren und die auch meinen eigenen Erfahrungen entsprechen, sehe ich, dass der Weg wirklich zum Himmel führt.

 

 

Referenzen

 

(1) Daniel Richter im Interview. https://sz-magazin.sueddeutsche.de/kunst/wenn-es-nach-mir-ginge-wuerden-...

(2) Cytowic R.E.: Synesthesia: A Union of The Senses, (1989).  2nd edition, Cambridge: MIT Press.

(3) Rossi, E. L.: The Collected Papers of Milton Erickson on Hypnosis. (1980). Vol. 1. The Nature of Hypnosis and Suggestion. New York, Irvington

(4) Gilligan, S.: Generative Trance.  The Experience of Creative Flow. (2012). Carmarthen, Wales, Crown House

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