Schicht um Schicht ins Unterbewusstsein

Ruhig ist es hier und sehr grün. Hemmungslos versucht die Natur, sich die ehemalige Zementmühle in der Nähe von Schlehdorf wieder einzuverleiben. Eine bemooste Steintreppe führt um das Gebäude herum hinauf zu einer Terrasse. Dort steht eine zierliche, rothaarige Frau und winkt: Rita De Muynck, die seit 1979 hier wohnt und mitten in den Vorbereitungen für ihre große Einzelausstellung im Augsburger Diözesanmuseum steckt.

 

Das viergeschossige Gebäude mit Gängen, Treppen und verwirrend vielen Räumen passt gut zu ihr. Nicht nur weil ihr Weg zur Kunst alles andere als geradlinig verlief. Die labyrinthischen Wege, die sich durch das Haus ziehen, passen auch gut zu ihrer unablässigen Auseinandersetzung mit Innen- und Außenwelten, die in großflächige farbexpressive Malerei mündet.

Das Ausloten von Untiefen - darauf versteht sich Rita De Muynck gut. Das hängt auch mit ihrem früheren Beruf zusammen. Die gebürtige Belgierin studierte in ihrer Heimatstadt Gent Psychologie und Kommunikationswissenschaften. Ein Forschungsstipendium brachte sie ans Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, wo sie promovierte. Ein ideales Sprungbrett für eine Forscherkarriere in Amerika, sagt sie und schenkt Tee ein. Sie sprang nicht, blieb, forschte, unterrichtete und merkte mit 35 Jahren, dass ihr etwas abging. "Ich konnte viel geben, empfing aber keine neuen Impulse mehr." Dafür spürte sie, wie eine alte Sehnsucht in ihr erwachte: Selbst kreativ tätig zu sein, nicht mehr nur passiv andere zu beobachten.

Als sie mit ihrem Mann in die Fabrik zog, malte sie bereits. Aber nur nebenbei. Amüsiert weist sie auf "Van Eyck auf den Seychellen" (1982). Das kleine hyperrealistische Ölgemälde, das einen Mann mit Muschel zeigt, zeugt von ihrer Begeisterung für die alten flämischen Meister. Aber da gab es auch noch zwei Verwandte, mit denen sie zehn Jahre die Sommer in der Toskana verbrachte: Schwager Robert Gernhardt, seines Zeichens Maler, Zeichner, Dichter, und seine Frau, die Malerin Almut Ullrich - "die haben mir sehr viel gezeigt."

Aber Hobbymalerei genügte ihr nicht. 1990 kündigte sie und begann an der Uni Kunstwissenschaft zu studieren. "Der Seitenwechsel war happig", sagt sie und steht auf, um ins Atelier zu gehen. "Aber es war unbedingt erforderlich für mich, endlich selbst Subjekt zu sein." Seit 1995 arbeitet sie als freie Künstlerin.

 

Im Atelier begeistern erst das fantastische Licht und der weite Blick. An der Wand lehnt "Stürzen, Steigen, Schweben". Zwei Menschen fallen durch das All, über ihnen glänzt die Milchstraße. Rita De Muynck stellt das Bild auf den Kopf. Jetzt schwebt der Mann, die Frau steigt auf. "Ist eine richtige Erlösung", sagt sie. Daneben spült die "Große Welle" Figuren über scharfzackige Berge. Eine urbildhafte Szenerie in kräftigen Farben, die unvermittelt die Assoziation zum Flüchtlingsstrom auslöst. Die Künstlerin nickt zufrieden. Das sei die Intention gewesen, sagt sie.

Viele ihrer Motive entdeckt sie in Trancezuständen, nutzt ihre berufliche Erfahrung als Hypnosetherapeutin. Trancen eigneten sich gut, um ältere Wahrnehmungsschichten zu aktivieren und allgemeingültige Bilder zu entdecken, sagt sie, greift zu einem Zettel, um die verschiedenen Hirnschichten mit dem Zeichenstift zu erläutern. Skizziert erst das kleine Reptiliengehirn, dann das limbische System, darüber das alles überwölbende Großhirn, den Chef-Kontrolleur, der alles einordnet und den Zugang zu den unteren Bereichen verwehrt. "Die Türen sind zu, aber durch Trance lassen sie sich öffnen." Tatsächlich bevölkern Archetypen ihre Bilder. Natur, Menschen, Tiere, Pflanzen - manchmal stehen sie in starken Farben und Konturen unvermittelt nebeneinander, ein anderes Mal sind sie eng verwoben. Wirklich hinreißend sind die oft wunderbar skurrilen Tag- und Nachtzeichnungen, die sie mit Tusche und Rohrfeder fertigt. Abstürzende Engel, fliegende Fatschenkindl, schreckliche Balanceakte über Krokodilmäulern, schwarze, alles verschlingende Strudel - "ich banne so meine Träume."

 

Raus aus dem Atelier, eine steile Treppe abwärts. Dann eine Tür, die in einen Seminarraum führt, vorbei an Plastikschüsseln, die Wassertropfen von der Decke sammeln. In die Ecke geschoben die "Zerfetzung" (2003), eine Skulptur aus der Rotkäppchen-Serie. Wölfe finden sich in vielen Bildern De Muyncks wieder, als Gefährte des Menschen, auch als Rächer. Wieder öffnet sich eine Tür. Eine riesige Halle. Hier hängt "Das Requiem", eines der Lieblingsbilder De Muyncks, das sie nach dem Tod ihrer Mutter malte. Ein Wolf beschnüffelt eine leblose Gestalt, die in einer Grube liegt. Der erste Eindruck ist dunkel, düster, bis die schwerelose Transparenz der Figur zu wirken beginnt. Nicht weit entfernt steht die Skulptur "Attemptation". Attackiert der zerrupfte Wolf das armlose Rotkäppchen oder verführt er sie. Oder sie ihn? Suche oder Heimsuchung - Ambivalenzen, wohin man schaut.

 

Wieder eine Treppe, noch ein Stockwerk tiefer. Ein dunkler Gang, es gluckert leise, eine Pfütze. Unerwartet steht man vor "Schlehdorf". Keine oberbayerische Idylle, aber eine lebensfrohe Welt. In der Mitte Kind und Kuh, aber auch jede Menge anderes Getier. Manches muss man in den Farbfeldern erst entdecken.

Dann wieder ein weiterer großer Ausstellungssaal. Der Blick fällt auf Gabriele Münter, deren Gesicht monumental in drei Metern Höhe aus einem Lindenstamm herauswächst. Die Bäume, um 1870 gepflanzt, säumten die Straße, die zum Murnauer Münterhaus führt. Vor einigen Jahren wurden sie gefällt. De Muynck rettete Teile der Stämme, immerhin Augenzeugen der Spaziergänge Münters und Kandinskys, und legte 2008 ihr "Holzgedächtnis" frei.

Dominiert wird der Raum vom "Himmel der Kühe", einem Triptychon, das eines ihrer zentralen Themen behandelt: Der Umgang des Menschen mit der Kreatur. Die Gemälde entstanden als Reaktion auf die Nachrichten über Massentötungen oder Tiertransporte. Die rotkopfige "Wutkuh" malte sie, als in der Nachbarschaft eine Mutterkuh Tag und Nacht nach ihrem abtransportierten Kalb schrie. Um den Tierbestand zu verringern, zahlte die EU in den Neunzigerjahren eine Tötungsprämie für Kälber. "Was machten die Bauern: Sie fingen an, Kälbchen zu produzieren." Der Himmel, in den die Kühe stürzend wirbeln, ist am unteren Bildrand, oben wartet die Hölle, das Leben auf Erden.

 

Wieder ein Gang. Eine große Stufe und man steht in auffallend behutsam renovierte Wohnräumen. Die kühle Ästhetik unterstreicht die expressive Kraft der zwei Gemälde, die wenig Hoffnung auf ein friedvolles Weiterleben machen. Personen mit Gasmasken zeigt das eine, apokalyptische Reiter das andere. Die Männer sind anscheinend auf dem Weg, eine Welt zu verlassen, die durch sie unbewohnbar geworden ist. Was bleibt, sind müde, leere Gesten. Und der Titel des Werks: "Ach ja".

Rita De Muynck, Sehnsucht nach Erlösung; Diözesanmuseum St. Afra, Korngasse 3 -5, Augsburg, bis 4. Dezember

 

Sabine Reithmaier. Süddeutsche Zeitung, 30. September, 2016. Nr. 227, S. 38

Montag, Oktober 31, 2016
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